Die Kobolde by Karl-Heinz Witzko

Die Kobolde by Karl-Heinz Witzko

Autor:Karl-Heinz Witzko [Witzko, Karl-Heinz]
Die sprache: deu
Format: epub


21. Von hohem und niederem Verrat

Graf Neidhard von Friedehack legte das mit winzigen Buchstaben beschriebene Blatt neben die Kerze. So, so, die Königin war also auf Wichteljagd, dachte er und griff nach dem Weinpokal. Eingehend betrachtete er sein verzerrtes Abbild, das sich auf der gebogenen Oberfläche des Trinkgefäßes spiegelte: das schmale Gesicht, das in einem spitzen Kinnbart

auslief, den vollen Mund, die hungrigen Augen unter den buschigen Brauen, das widerspenstige, pechschwarze Haar.

Belustigt erinnerte sich Neidhard an den Barden, der seine Erscheinung kürzlich mit der eines Prinzen aus einemburakanntinischen Märchen verglichen hatte. Ganz unbegründet hatte er das nicht getan. Zu schade, daß ein Parteigänger des Königs den Barden mittlerweile erschlagen hatte!

Der Graf nahm einen kleinen Schluck Wein und erhob sich. Gemächlich schritt er durch den Saal, an dessenWänden die Bilder einer langen Reihe von Ahnen hingen und zu ihm herabsahen.

Früher waren ihm ihre Mienen streng und abweisend, sogar feindselig erschienen. Neuerdings bildete er sich ein, Wohlwollen, ja einen Funken von Stolz in ihren Augen zu entdecken, der nur ihm allein galt. Denn er und seinSohn würden erreichen, was das Schicksal den Verstorbenen verwehrt hatte.

Was bezweckte die Königin mit dieser Jagd? dachte Neidhard. Der Brief verriet es nicht, und daß sie den großenPlan durchschaute, war ausgeschlossen.

Im Vorbeigehen ließ der Graf die Hand durch das Haar seines einzigen Sohnes streichen, der auf dem Boden kauerte und spielte, die Ohren rot vor Eifer. Der Dreijährige sah kurz zu ihm auf, lächelte und wandte sich dannwieder den heldenhaften Zweikämpfen seiner gut zwanzig hölzernen Ritterfigürchen zu.

Neidhard blieb bei der Wiege stehen. Der blonde Säugling darin war wach und schaute mit großen blauen Augen zu ihm auf. Der Graf schenkte ihm ein Lächeln, worauf das Kind eine der kleinen Hände bewegte, als wolle es ihm zuwinken. Vorsichtig nahm der Graf den Säugling aus der Wiege und hielt ihn so, daß er seinen spielenden Sohn sehen konnte.

»Auch wenn du meine Worte noch nicht verstehst, kleiner Mann«, murmelte er. »Dort sitzt dein großer Bruder. Er ist der wichtigste Mensch, den es in deinem Leben je für dich geben wird. Du wirst ihm stets gehorchen undalles tun, um ihm zu nützen. Nichts ist süßer, als ihm zu dienen. Das ist deine Bestimmung! Denn er ist der großeBruder, und du bist nur der kleine.«

Behutsam legte der Graf den Säugling wieder in die Wiege und ging zurück zu dem Tisch, an dem er zuvor gesessen und gelesen hatte.

Er nahm den Brief und überflog ihn noch einmal, bevor er ihn an die Kerzenflamme hielt, die sofort hungrig anihm leckte. Sobald das Feuer einen Halbkreis in das Papier gefressen hatte, trug er das Blatt zum Kamin undlegte es auf die kalten Steine. Geduldig beobachtete er, wie sich das Papier schwärzte und wellte. Was bezweckte die Königin?, fragte sich der Graf erneut. Für die Summe, die er Bernkrieg von Stummheimbezahlte, hätte der Ritter ruhig ausführlicher sein können!

Aber vermutlich wußte er schlichtweg nicht mehr.

Nun, man würde sehen. Es gab andere Möglichkeiten, in Erfahrung zu bringen, was hier vor sich ging.



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